In der Digitalisierung von Einkauf und Vertrieb stecken enorme Potenziale, auch für die Chemieindustrie. Wo die Unternehmen Nachholbedarf haben, warum der Faktor Mensch wichtig bleibt und wie schon kleinen und mittelständischen Betrieben der Einstieg in die Digitalisierung gelingt, erklärt Alexander Janthur von der Digitalagentur Turbine Kreuzberg im Gespräch mit Tobias Göpel.
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Tobias Göpel: Die Digitalisierung bietet Chancen zur Optimierung von Geschäftsprozessen, besseren Einkäufen und größerer Kundenbindung. Auch im B2B-Bereich. Zu komplex, zu aufwendig und zu wenig individualisierbar, lautet hingegen die Kritik. Die Hürden scheinen bei vielen Unternehmen zu hoch zu sein. Verträge schließen und Kunden gewinnen passiert bevorzugt im persönlichen Kontakt. Doch an der Digitalisierung kommt niemand vorbei. Wie es gelingen kann, dazu spreche ich heute mit Alexander Janthur, CEO beim Unternehmen Turbine Kreuzberg. Hallo Alexander und herzlich willkommen bei Wir. Hear.
Alexander Janthur: Ja, hallo! Herzlichen Dank für die Einladung und ich freue mich auf unseren Austausch.
Göpel: Ich mich auch. Und dann gleich die Frage zuerst: Stell dich doch bitte kurz vor. Wer oder was ist Turbine Kreuzberg?
Janthur: Dann fange ich kurz mal mit mir an. Alexander Janthur, ich habe 1997 die Technologieagentur Turbine Kreuzberg gegründet. 97, auch für mich persönlich ein sehr wichtiges Jahr, weil meine erste Tochter dort geboren wurde. Und bin jetzt seit 25 Jahren im Bereich Softwareentwicklung und Digitalisierung unterwegs. Was macht die Turbine Kreuzberg? Turbine Kreuzberg ist eine Technologieagentur, die Software entwickelt mit dem Fokus auf Plattform und Daten und Prozess-Hubs. Wir sind aktuell 110 Menschen und haben unsere Standorte in Berlin und Faro in Portugal.
Göpel: Wenn du schon so lange dabei bist, bist du ein Experte und deswegen auch schon mal die Expertenfrage als Einstieg: Wie weit ist aus deiner Sicht Deutschland in der Digitalisierung im europäischen Vergleich?
Janthur: Ach, eine sehr schöne Einstiegsfrage und da würde ich jetzt mal zwei Studien zitieren. Einmal eine EU-Studie, also die EU erstellt regelmäßig einen Index ihrer Mitgliedsstaaten, wie weit die Digitalisierung in den Staaten ist, der sogenannte Digital Economy & Society Index DESI. Und 2021 landete Deutschland da im Mittelfeld. Es ist also auf jeden Fall Potenzial nach oben. Und als kleiner Einschub: Wenn man die letzten zwei Jahre in der Pandemie gesehen hat – gerade im Bereich Gesundheit und Bildung ist noch sehr viel Potenzial im Bereich Digitalisierung nach oben. So, das ist sozusagen die gesellschaftliche Einschätzung. Wenn man jetzt in die Branche Chemie und Pharma geht, da gibt es den Digitalisierungsindex des Instituts der deutschen Wirtschaft, der auch regelmäßig evaluiert, wie weit einzelne Branchen bei der Digitalisierung ihrer Prozesse sind. Und da liegt der Bereich Chemie und Pharma unter dem Durchschnitt. Also auch da viel Luft nach oben und viel kreativer Raum, der gestaltet werden kann.
Göpel: Und dafür gibt es ja euch, um dieses Potenzial zu heben. Und als Vorbereitung für unser Gespräch habe ich mir auch mal eure Website angeschaut und da steht "Unsere Arbeit digitalisiert und automatisiert Beschaffung, Produktion, Vertrieb.” Damit schafft ihr Mehrwert für die Unternehmen. Und wie kann so ein Mehrwert konkret aussehen? Hast du da Beispiele?
Janthur: Ja, die Mehrwerte. Letztendlich sind es gleich drei Oberbegriffe, unter die man die packen kann. Das ist einmal Effizienzsteigerung, Automatisierung und natürlich Umsatzsteigerung. Im Bereich Effizienz geht es darum, Prozesse hundertprozentig zu digitalisieren und alle Schritte, die man automatisieren kann oder die vielleicht sogar aktuell redundant vorgenommen werden, eben zu verschlanken und den Gesamtprozess effizienter umzusetzen. Das zweite Automatisierung. Da geht es ganz stark auch Richtung Beschaffungslösungen. Dort zu überlegen, wie kann man auch gerade im B2B-Bereich die Deckung von Bedarfen für B2B-Unternehmen automatisieren und damit letztendlich eine exzellente Qualität und ein exzellentes Kundenerlebnis erzielen? Und dann, klar, das Ziel von nahezu allen Unternehmen: die Steigerung des Umsatzes. Das heißt digitale Lösungen zu entwickeln, die neue Erlös-Streams eröffnen oder eben auch ganz einfach über eCommerce-Lösungen zu internationalisieren.
Göpel: Hättest du ein konkretes Beispiel, was von der Chemie oder auch außerhalb der Chemie schon mal umgesetzt hast, damit es ein bisschen greifbarer wird?
Janthur: Klar, sehr gerne. Ich würde gleich zwei Beispiele mal anfangen, die nicht im Bereich Chemie/Pharma sind. Und dann können wir ja im Gespräch gucke ich, dass ich die Projekte, die jetzt im Bereich Chemie/Pharma liegen, immer noch mit einbringe. Erstes Beispiel: Wir arbeiten jetzt seit über zwei Jahren für Hornbach im großen Projektteam und sind dort für den Teilbereich der E-Commerce-Infrastruktur von Hornbach zuständig. Wir haben jetzt aktuell unterstützt beim Onlineshop für Luxemburg. Hornbach hat einen neuen Brand Bodenhaus rausgebracht, dort waren wir an der Umsetzung beteiligt und sind jetzt eben in der Umsetzung weiter internationaler Shops im Projektteam. Also letztendlich eine E-Commerce-Infrastruktur, eine Plattform, auf der dann Shops sowohl in Deutschland als auch international ausgerollt werden. Das ist Hornbach. Ein zweites Projekt, was ich immer sehr gerne präsentiere, weil es hat Alleinstellungsmerkmale: Wir haben für Sourceability, das ist ein Anbieter im Bereich Elektronikkomponenten, für die haben wir eine weltweite B2B-Beschaffungsplattform umgesetzt, auf der 550 Millionen Produkte verfügbar sind und eben verschiedene Hersteller, Lieferanten ihre Produktangebote platzieren. Und B2B-Käufer, also Produzenten von Notebooks, von Smartphones ihren Bedarf an Elektronikkomponenten decken. Das Interessante daran, weil das Thema werden wir nachher ja auch noch mal zumindest anreißen, auf dieser Plattform ist, dass man 550 Millionen Produkte in Echtzeit durchsuchen kann und dass die B2B-Interessenten ihre Teilelisten hochladen, die zum Teil mehrere 1000 Einzelteile beinhalten, und sie in kürzester Zeit ein Feedback bekommen: Welche Teile sind verfügbar, zu welchem Preis, in welchem Lieferkorridor? Das heißt, dass wir nun einen Procurement-Prozess, einen Einkaufsprozess, der sonst zum Teil zwei, drei Wochen gedauert hat, enorm verdichten und verkürzen.
Göpel: Das klingt super. Was mir jetzt durch den Kopf schwebt ist, dass ja in der Chemie, zumindest in Rheinland-Pfalz auch viele mittelständische Betriebe sind. Und ihr entwickelt Plattformen, das hast du ja gerade gesagt, für das digitale Business und dieser Begriff Plattformen, auch die Mengenangaben, die du genannt hast, das klingt für mich alles sehr gewaltig und komplex. Ist das auch so?
Janthur: Wir arbeiten zum Beispiel für mittelständische Chemiehändler, wo es ein Zielbild gibt, die auch eine Plattform, also die einen Großteil ihrer Business-Prozesse digital auf eine Plattform heben wollen und die natürlich auch mit all ihren Kunden auf dieser Plattform interagieren wollen. Aber der erste Schritt in dem aktuellen Projekt ist, dass wir ein Kundenportal entwickeln, also dass wir an dieser Schnittstelle, ein Auftrag liegt vor, dieser Auftrag liegt digital vor. Alle Dokumente zu diesem Auftrag, alle Dokumente zu den in diesem Auftrag beinhalteten chemischen Produkten sind digital, liegen digital vor und der Auftraggeber kann diesen Auftrag einfach digital noch mal nachbestellen. Also das ist so ein iterativer Prozess. Also wir starten mit einem Kundenportal, im nächsten Schritt soll dann das komplette Produktsortiment verfügbar sein und in der dritten Ausbaustufe reden wir dann über Added Values, automatische Beschaffung oder Beratungsleistung, die digital auch unterstützt werden oder die digitale Grundlage haben.
Göpel: Du sagst, ihr schafft ein Kundenportal. Das kann relativ schnell auch wieder komplex werden.
Janthur: Der Punkt, an dem wir in dem Projekt einsteigen, ist immer: Das Unternehmen hat eine Zielsetzung und hat dann letztendlich eine formulierte Unternehmensstrategie für Digitalisierung. Also wir sind der Partner, der eine Zielsetzung technologisch umsetzt. Wir starten in der Regel mit einer Discovery-Phase, wo wir zusammen mit dem Auftraggeber eine Unternehmensstrategie entwickeln. Also wie wird es umgesetzt? Welche Akteure sind notwendig, auch eine zeitliche Dimension. Bis dahin natürlich auch über eine Investitionsplanung. Wenn man an allen Ecken gleichzeitig anfängt, wird’s selten ein stabiles Haus. Also dann geht es wirklich darum, wo ist der Anfang und wo möchte man zum Beispiel im Zeitraum XY sein? Also da wird die Umsetzungsstrategie definiert. Es werden die Akteure definiert, die auch unternehmensseitig notwendig sind, um das Projekt zum Erfolg zu führen. Letztendlich werden die Anforderung erfasst und nach dieser Discovery-Phase beginnt dann die Umsetzung.
Göpel: Hat die Unternehmensgröße Einfluss auf das Projekt? Also konkret: Umsatzgrößen, wo es um Breakpoints geht, wo du sagst, erst ab einer gewissen Menge macht das Ganze auch wirklich Sinn oder kann man das für alle ständig umsetzen?
Janthur: Nach meinen Erfahrungen das Wichtigste ist die Klarheit des Zielbilds, also wo möchte man hin? Und dann die Bereitschaft, dieses Zielbild stringent umzusetzen. Also das ist für mich immer der stärkste Einstieg: Gibt es ein Ambitionslevel. Weil wir sind mittlerweile ja schon, also wir sind ja nicht mehr am Anfang der Digitalisierung. Wir haben einen Reifegrad und wir haben, die Geschwindigkeit nimmt doch immer weiter zu. Das heißt auch der, das ambitionierte Zielbild, die Kreativität in der Businessmodell-Entwicklung muss, ja muss einen hohen Stand haben und gerne sollte möglichst zornig sein. So, wenn man diesen Einstieg hat, dann kann man zusammen diskutieren, wie kann es umgesetzt werden? Und natürlich, klar ist es ein Unterschied, ob es ein Konzern mit mehreren 1000 Mitarbeitern und mit Umsätzen im Milliardenbereich ist oder ob es ein kleiner Mittelständler ist, der, weiß ich nicht, keine 100 Mitarbeiter und 100 oder 200 Millionen Euro Umsatz hat natürlich.
Göpel: Wenn du auf deine Projekte in der chemisch-pharmazeutischen Industrie zurückblickst und vielleicht auch darüber hinaus - aber ich konzentriere mich auf unsere Branche: Wo sind aus deiner Sicht die drei größten Knackpunkte bei der Umsetzung?
Janthur: Ich würde da gerne nochmal diesen Verweis auf den strategischen Ansatz nochmal betonen. Also der Knackpunkt ist wirklich, wo möchte man hin? Also gibt es ein, da geht es darum, je nachdem wie das Unternehmen strukturiert ist, also Geschäftsführung, Eigentümer, Units, die Business mit der Entwicklung machen: Gibt es dort ein committedes starkes Zielbild? Wenn es dieses Zielbild gibt und die Bereitschaft, auch die Indikation, die da mitkommen – also es ist ja nicht nur eine Technologie, also wir machen die Technologieumsetzung, aber es ist ja oft auch eine Veränderung von Berufsbildern, es ist ein kultureller Wandel, aber wenn dieser starke Gestaltungswille da ist, kann man alle anderen Sachen danach umsetzen. Fehlt der, fehlt dieses starke, starke Zielbild, verrennt man sich sehr schnell, scheitert man an internen Befindlichkeiten, an einer fehlenden Bereitschaft, vielleicht auch Muster oder Routinen, die man seit 10, 20 Jahren erfolgreich umgesetzt hat, zu überdenken oder zu modellieren. Und natürlich, was schon auch immer, also wir erleben Auftraggeber, die haben bereits einen gewissen digitalen Reifegrad, also die haben bestimmte Projekte umgesetzt in den letzten Jahren, die haben sich mit Produktdaten auseinandergesetzt, haben Produktinformationssysteme eingeführt, haben im Customer Care eine digitale Lösung. Und so weiter. Sie haben also in verschiedenen Segmenten bereits digitale Lösungen eingeführt und kennen das Prozedere und kennen auch den Impact aufs Unternehmen von diesen Projekten. Diese Unternehmen haben es natürlich zum Teil deutlich einfacher, dann Plattformideen oder neue digitale Geschäftsmodellideen technologisch umzusetzen. Jemand, der gerade damit anfängt und der sich sozusagen mit all den Dimensionen auseinandersetzen muss, der also ein Produktdaten-Thema hat, der ein Prozessthema hat, der auch ein kulturelles Thema hat – das sind dann auf jeden Fall fordernde Projekte.
Göpel: Du hast das jetzt alles sehr diplomatisch umschrieben. Ich frag jetzt mal ganz ketzerisch, ganz direkt: Gab es auch schon Projekte, die gescheitert sind, weil der Kunde schlicht und ergreifend gar nicht wusste, was er wollte, außer er muss digital werden?
Janthur: Das Schöne ist immer: Wir sind ja mittlerweile schon jetzt ein paar Jahre am Markt. Ohne dieses Zielbild, muss für uns verständlich und klar sein. Wenn es das nicht ist, machen wir die Projekte nicht.
Göpel: Ich nehme das mal als ein leises “Gescheitert nicht, aber ihr habt es erst gar nicht angefangen.”
Janthur: Genau. Aber dann verweisen wir im Prinzip an Strategieagenturen, die sich als erstes noch mal mit der Businessmodell-Entwicklung auseinandersetzen. Weil dann natürlich klar, ohne einen klaren Handlungsauftrag. Also wir sind die, die die etwas technologisch möglich machen. Wir entwickeln keine Unternehmensstrategie oder ermöglichen einen kulturellen Wandel. Da sind andere Spezialisten für.
Göpel: Dann verbinde ich das mal mit meiner Eingangsfrage, nämlich die Frage, wie weit Deutschland digitalisiert ist. Könnte diese fehlende Vision oder Zielsetzung ein Grund sein, warum es hapert? Dass die Unternehmen sagen “Ich fühle mich eigentlich so, wie es ist, ganz wohl, ich muss nicht digitalisieren, es läuft doch alles prima.”
Janthur: Also meine persönliche Einschätzung jetzt, meine persönliche Einschätzung ist: Wir sind sozusagen die stärkste Wirtschaftsnation in Europa. Wir haben wirklich Jahrzehnte erfolgreichster Entwicklung hinter uns. Und es kann schon sein, dass dieser Erfolg ein Stückweit in den letzten Jahren sozusagen die Stringenz in der Veränderung überdeckt hat. Also dass man vielleicht einen Moment zu lange geschaut hat und sich darauf verlassen hat, dass unsere Ingenieurskunst und unsere wirtschaftliche Kraft uns auch die nächsten 20, 30 Jahre diesen wirtschaftlichen Erfolg ermöglicht. Was wir aber sehen, um es ein Stück weit zu relativieren, ist gerade in den letzten zwei Jahren eine enorme Intensität der Auseinandersetzung und auch durchgehende Erkenntnis, dass, wenn man sich diese Fragestellung nicht ernsthaft stellt und jetzt so grundlegend herangeht, dass man dann spätestens in drei, vier Jahren massive Wettbewerbsprobleme bekommt, bis dahin, dass man da nicht mehr den Anschluss schafft. Also ich würde sagen in den letzten zwei Jahren, also zumindest die Kontaktpunkte, die wir haben, dort wird in einer Stringenz, in einer Breite und auch mit einem Investitionswillen agiert, das ist schon beachtlich und ist eine Veränderung, auch wenn ich jetzt keine Ahnung zehn Jahre zurückschaue. Also das Bewusstsein ist da und das Interessante ist jetzt auch: Also es gibt auch eins, zwei Auftraggeber, die wir haben, wo wir sagen, die starten jetzt mit einer dermaßen Stringenz und haben natürlich jetzt auch, da sie jetzt starten, schon ganz andere Werkzeuge, die sie einsetzen können in der Umsetzung. Also es ist nach meiner Einschätzung nie zu spät zu starten. Entscheidender Erfolgsfaktor ist halt, dass das Zielbild klar ist und dass man dann eben auch die, man muss dann bereit sein, diese Strecke auch zu fahren, ohne Wenn und Aber.
Göpel: Das ist ein guter Punkt, denn speziell bei Beschaffung, Vertrieb habe ich den Eindruck, dass da viele Unternehmen auch sagen, dass der persönliche Kontakt wichtig ist, also die notwendige Bindung, die persönliche Bindung zwischen Lieferanten und Kunden ist entsprechend mit ausschlaggebend, ob überhaupt Verträge oder Abschlüsse zustande kommen. Wie kann trotz oder gerade durch die Digitalisierung diese wichtige Bindung gesichert werden? Oder ist die gar nicht mehr so wichtig?
Janthur: Also ich sage mal Faktor Mensch, also die soziale Interaktion und auch das Wissen über Produkt und die Vertriebssituation sind natürlich zentraler Erfolgsfaktor. Der Punkt ist aber, meine Einschätzung ist, dass man sich nicht auf der Einkäuferstruktur, die man jetzt vorfindet, also bei der verarbeitenden Industrie oder eben bei den B2B-Kunden, die man hat, sagt, okay, das funktioniert jetzt so – alles, was jetzt nachkommt, was nachrückt im Bereich Einkauf, sind Digital Natives, das sind 25-jährige nach der Ausbildung oder nach dem Studium. Die sind komplett digital sozialisiert und für die gibt es so viele digitale Hygienefaktoren, und wenn die nicht da sind... Die möchten nicht mehr mit Excel-Listen bestellen, die verstehen es überhaupt nicht, die sind sozusagen, die haben eine Effizienzerwartung an, also natürlich wollen sie sich, die wollen, möchten gut beraten werden, sie möchten den fachlichen Austausch haben. Sie möchten zum Beispiel die zentralen Themen, die jetzt, vor denen auch alle stehen, also auch gerade auch im Chemiebereich Nachhaltigkeit, CO2-Footprint, effizienter Einsatz. Sind die Sachen recycelbar? Wie kann man langlebiger produzieren? Sie möchten, dass natürlich über diese Fragen, wenn dort der Vertrieb ihnen den fachlichen Anknüpfungspunkt gibt, da sind sie herzlich willkommen und das ist ein starkes Verkaufsargument. Aber so, ich sage mal prozessuale Hygienefaktoren, dass man irgendwie was noch händisch bestellen muss, dass man Medienbruch bei einer Bestellung hat, dass man nicht automatisch nachbestellen kann, dass man nicht alle Dokumente an der Bestellung hat oder gerade im chemischen Bereich die umfangreichen Dokumentationsanforderungen an chemische Produkten, wenn die nicht digital vorliegen, wenn die sich nicht automatisch aktualisieren, wenn ein Zertifikat abgelaufen wird, also diese enorm hohe Prozesserwartung. Und in der Zukunft wird jemand, der nicht diese Prozesserwartung digital, also effizient erfüllt, wird dann auch den Deal nicht mehr machen. Also das ist, sozusagen der Faktor Mensch wird im Vertrieb immer eine hohe Bedeutung haben. Er wird sich aber wandeln von Produktkonsolidierung hin zu einer Beratungsleistung: Was kann das Produkt, was ich dir verkaufe, für Mehrwert in deiner Produktion? Wie kannst du deine Nachhaltigkeitsziele erreichen? Wie kannst du ein besseres Produkt produzieren? Wie kannst du, schönes Beispiel aus der Chemie: Einsatz von Insektiziden auf der Fläche. Da gibt es Studien, die sagen, wir könnten in Deutschland 50 % weniger oder noch mehr Insektizide einsetzen, hätte einen geringen Impact auf den landwirtschaftlichen Ertrag. Das sind doch die Bereiche, da sag ich, da muss man doch ran. Wenn man jetzt die Insektizide verkauft und sagt, wie kann man die am effizientesten einsetzen? So, also dieser Wandel hin, weg von ner Produktkonsolidierung, das sind für mich Sachen, die kann man zu 100 % digitalisieren, die muss man digitalisieren hin zu einer Beratungsleistung, zu einer wirklichen, letztendlich Produktanwendungs-Fokussierung.
Göpel: Also neben dem Punkt, dass junge Menschen vor allem das richtig einfordern, sehe ich aber auch das Potenzial, dass man mit weniger Vertrieblern mehr erreichen kann. Also wir haben ja allgemein das Fachkräfteproblem. Es wird immer schwieriger, Leute reinzukriegen, und wenn ich dann Arbeiten in das Digitale auslagern kann und dann den Vertriebler eher als Berater habe, habe ich das Potenzial zu sagen, diese eine Person kann deutlich mehr Kunden zum Beispiel bedienen und bestimmte standardisierte Prozesse brauche ich ihn nicht mehr. Aber das, was dann wirklich eine qualitative Bindung ist, da kann ich ihn viel stärker einsetzen und dann auch für den Betrieb besser einsetzen.
Janthur: Absolut, absolut. Und das beinhaltet ja auch die Komponente, dass man das Wissen, das ist ja auch ein Thema, das Wissen, was aktuelle Vertriebler oder Berater haben, dass man dort Wege findet, wie das digital dem Gesamtunternehmen und allen Vertrieblern und Beratern zur Verfügung steht. Das ist ja auch ein Thema. Also wir haben einerseits Fachkräftemangel, andererseits haben wir jetzt Fachkräfte, gestandene Fachkräfte, die über einen großen Wissenspool verfügen. Wie kann man jetzt dieses Wissen digitalisieren, der Gesamtorganisation zur Verfügung stellen und natürlich auch neuen Mitarbeitern? Und das ist, glaube ich, auch die zentrale Aufgabenstellung. Und dann natürlich bei Prozessen immer end-to-end sich anschauen, was passiert da. Und immer die Zielsetzung haben, was man an Prozess digitalisieren kann, digitalisieren, was man automatisieren kann, automatisieren.
Göpel: Die Erfahrung der älteren Beschäftigten im Betrieb halten ist ein schönes Stichwort, was mich zu Big Data bringt. Welche Erfahrungen hast du dazu in deinen Projekten gemacht? Wo liegen in den Unternehmen schon Schätze, die nur geborgen werden müssen und wo vielleicht noch nicht mal viel großer Aufwand dafür notwendig ist?
Janthur: Also was wir entdeckt haben, sind Schätzchen, sind also irgendwelche ERP-Systeme, die 15 Jahre alt sind, wo man zum Teil selber nicht mehr genau weiß, welche Algorithmen was wie berechnen. Aber es funktioniert ja. Also Schätzchen haben wir schon viel gefunden, aber Big Data-Schätze, die muss man sich aufbauen. Das ist leider so, die sind nicht da, die muss man sich aufbauen und das macht man auch nicht abstrakt. Also man schafft sich da nicht ein Big Data Silo und sagt, sondern da geht es darum, was ist die Zielsetzung, wo kann man, das sind ja so die, sagen wir, die einfachen Sachen, Automatisierung der Bedarfsdeckung. Also ich habe einen, ich habe eine digitale End-to-end-Digitalisierung, ich liefere jeden Monat habe ich einen verarbeitenden Betrieb, der kriegt 13000 Kilo Granulat, weil er eben in der Automobilindustrie Scheinwerfer produziert oder kriegt auch mehrere Tonnen. Und ich habe sozusagen sämtliche Aufträge von dem digital, das heißt, dann kann ich darauf, kann ich eine Bedarfsplanung machen, dann kann ich ihm anbieten, ach weißt du was, du musst ja nicht mehr bestellen, lass uns doch ein Jahreskontingent vereinbaren und ich beliefere immer dich regelmäßig. Du hast also diesen Nach-Order-Schritt schon nicht mehr, sondern wir machen es jährlich im Rahmen von einer Jahresvereinbarung. Oder noch weiter: Ich sehe, dass du dieses Granulat immer brauchst oder dieses Liquid oder was auch immer. Du hast nen durchschnittlichem Verbrauch von Summe X. Wir machen es so: Ich übernehme deine Bestandsführung und du bezahlst die Sachen, die du entnimmst. Ich sorge dafür, dass diese Vorprodukte permanent bei dir verfügbar sind. Und das ist ja dann eine Anwendung wo du, du hast ein klares Konzept, du möchtest ein Value deinem Auftraggeber, deinem Kunden geben. Du musst diesen digitalen Prozess und dann sammelst du Daten, schaffst du quasi einen Big Data-Pool, mit dem du dann diese neuen Services anbieten kannst. Also noch mal: Wir haben in all den Jahren, Schätzchen haben wir entdeckt, aber Schätze noch nicht, die muss man aufbauen im Datenbereich. Das ist leider so.
Göpel: Was mich dann auch zur Abschlussfrage bringt. Also du hast klar definiert, was es braucht, nämlich ein konkretes Ziel und auch die Bereitschaft gegebenenfalls einer kulturellen Veränderung. Du hast viele Beispiele gebracht, was es bringt von Effizienzsteigerung, besserer Kundenbindung. Aber wenn du jetzt auch sagst, es gibt keine Schätzchen, oder nur Schätzchen, aber keine Schätze und wenn, muss man sich das aufbauen: Über was für einen Zeithorizont unterhalten wir uns? Also, ich bin jetzt ein Chemieunternehmen. Ich habe all das, was du brauchst. Ich habe ein konkretes Ziel und die Bereitschaft, steig mit dir ein: Was ist so von den Projekten, von der Erfahrung her so der Mittelwert an Zeit, was es ungefähr braucht zwischen Willensbekundungen bis hin, dass man sagt, das Ding ist fertig und läuft.
Janthur: Das würde ich noch mal noch mal gerne strukturieren, weil du kannst natürlich erste Ergebnisse innerhalb von sechs Monaten umsetzen. Also wenn du sagst, du möchtest den ersten Schritt gehen, alle Aufträge sollen digital vorliegen, den Kunden zur Verfügung stehen. Du möchtest die entsprechenden Dokumente an den Produkten digital zur Verfügung stehen und du möchtest einen einfachen Weg umsetzen, wie man nachbestellen kann. Also so ein erster iterativer Schritt. Das kann man in einer Kurziteration umsetzen und dann kommt der Produktkatalog und dann kommen halt erweiterte Services. Das ist natürlich ein Prozess, der eine gewisse Zeit braucht, wenn man relativ blank startet. Aber das Interessante ist, es ist also möglich, in mehreren Iterationen immer Digitalisierungsschritte umzusetzen, die dann auch schon in die Anwendung zu bringen, dass sie dann auch einen Value produzieren, der Invest muss dann auch wieder als Income zurückkommen. Also man kann letztendlich, auch wenn man sein Unternehmen als Plattform denkt perspektivisch, den Weg dahin beschreiten und es in mehreren Schritten machen. Und das sehen wir. Also das vielleicht noch mal auch zu dem Bereich Chemie/Pharma: Also wir sehen dort halt einerseits diese Prozessorientierung, da gibt es schon bei vielen noch großen, also da gibt es noch viel Potenzial, um es positiv zu formulieren. Es gibt aber auch viele kreative Ideen, wie man Unternehmen bei der Produktentwicklung unterstützen kann und das auch digital gestützt macht. Dass man eben Anwendungserkenntnisse von Vorprodukten dann in das Design von neuen Produkten fließen lässt. Also du hast dann im Kosmetikbereich Sachen, die haben ja oft eine gleiche Grundstruktur. Du kannst, wenn wie sagt, dieses Thema Nachhaltigkeit kommt ja, wurde jetzt ein Stück weit überdeckt, aber es wird wieder Top eins werden in kürzester Zeit. Und dass du das zum Beispiel auch sagtst bei einer Produktentwicklung, du möchtest den CO2-Print aller Vorprodukte kennen, du möchtest die Recyclingfähigkeit der Vorprodukte kennen und dort zum Beispiel als Händler auch digital gestützt bei der Produktentwicklung unterstützen. Das ist auch ein Ausblick und letztendlich auch eine starke Aufwertung eines Händlers.
Göpel: Die Skalierfähigkeit ist immer gut und ich stimme dir auch zu: Nachhaltigkeit oder ganz speziell die Kreislaufwirtschaft ist auch durch den Konflikt in der Ukraine gerade das Thema. Als Deutschland sind wir ja nicht gerade rohstoffreich, also müssen wir gucken, wie kriegen wir das, was wir haben, dann auch im Kreislauf gehalten. Vielen lieben Dank. Wenn jetzt jemand neugierig geworden ist, Turbine Kreuzberg bei Google eingeben und sich informieren, das passt. Vielen Dank, Alexander, für das Gespräch. Zum Abschied bitte ich dich noch um zwei Titel für meine Wir. Hear.-Playlist. Also bei welchen Songs kannst du dich am besten entspannen oder welche Titel hörst du, wenn ein Projekt so richtig gut gelaufen ist?
Janthur: Ich habe zwei mitgebracht. Das eine ist Jeremy von Pearl Jam. Pearl Jam, eine Band, die mich seit jetzt fast 30 Jahren begleitet oder die ich begleite, kraftvoll und bringt mich immer wieder zurück in die Zeiten. Das ist ja Anfang der 90er Grunge, Pearl Jam, Nirvana, Soundgarden, tolle Konzerterlebnisse und immer noch kraftvolle Emotionen, die da aufkommen. Wer Pearl Jam noch nicht entdeckt hat, kann ich nur empfehlen. Also und das zweite, klar, ich komme aus Berlin. Ich habe das große Glück, die 30 letzten Jahre nicht nur Digitalisierung mit zu begleiten, sondern auch diese Stadt in ihrer Veränderung, habe sie auch noch gerade Jahre Anfang der 90er als die größte Spielwiese der Welt erleben können. Mit enorm vielen Freiräumen, die sehr stark eingefriedet wurden. Der Verwertungsdruck in dieser Stadt ist mittlerweile wirklich sehr sehr hoch. Und Berlin ist auch die Elektro-Hauptstadt nach wie vor. Da hätte ich dann mit Kollektiv Turmstraße “Sorry I Am Late" in der Extended Version auf jeden Fall eine Reminiszenz an Berlin-Elektro und die Clubkultur dieser Stadt.
Göpel: Da hör ich mal rein, die sagen mir jetzt nichts. Pearl Jam sagt mir was, aber die andere Gruppe nicht. Das höre ich mir gerne an. Liebe Zuhörende, das war eine weitere Folge von Wir. Hear. Zu Gast war Alexander Janthur, Geschäftsführer bei Turbine Kreuzberg. Wir haben über die Digitalisierung des Business gesprochen, vom Einkauf bis hin zum Vertrieb. Wenn Sie Fragen, Hinweise oder sogar Lob haben, dann senden Sie mir eine E-Mail an podcast@wir-hier.de. Vielen Dank und bis bald, Ihr Tobias Göpel.
Janthur: Vielen Dank von meiner Seite auch. Bleibt gesund und optimistisch. Danke.
Göpel: Danke. Ciao.