Am 6. Mai soll das Parlament Friedrich Merz zum neuen Bundeskanzler wählen. Das hat der Bundestag am Montag mitgeteilt. Vorher müssen CDU und SPD dem Koalitionsvertrag zustimmen, der CSU-Vorstand hat das bereits getan. Doch was genau steht eigentlich in dem 144-seitigen Papier – und was bringt es für Beschäftigte und Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie? Ein Überblick.
Koalitionsvertrag: Lob von BAVC und IGBCE
Für den Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) geht mit dem neuen Koalitionsvertrag einiges in die richtige Richtung. Er begrüßte unter anderem die Investitionen in Sicherheit und Infrastruktur, die Entlastung bei Energie und Bürokratie und mehr Anreize für Beschäftigung.
Und der Vorsitzende der Gewerkschaft IGBCE, Michael Vassiliadis, findet: „Die künftige Bundesregierung erkennt die Bedeutung des Chemiestandorts Deutschland an.“
Sieht man sich fünf Punkte an, die für die Chemieindustrie besonders wichtig sind, fallen die Reaktionen gemischt aus.
Ziel des Koalitionsvertrages: Mehr arbeiten soll attraktiver werden
Länger und flexibler arbeiten – dazu dienen die folgenden Maßnahmen im Koalitionsvertrag:
- Steuerfreie Überstundenzuschläge
- 2000 Euro pro Monat steuerfrei für Senioren, die trotz Rentenalter weiterarbeiten
- Anreize zur Aufstockung von Teilzeit auf Vollzeit
- Wöchentliche anstelle der bisherigen täglichen Höchstarbeitszeit
Sebastian Kautzky, BAVC-Geschäftsführer Kommunikation, geht davon aus, „dass der Effekt dieser Maßnahmen auf das Arbeitsvolumen begrenzt sein wird.“ Die wöchentliche Höchstarbeitszeit bringe zwar die dringend benötigte Flexibilität, aber kaum mehr geleistete Arbeitsstunden.
Auch die steuerfreien Zuschläge für Mehrarbeit würden in der Chemieindustrie wohl ohne Wirkung bleiben. Denn Mehrarbeit werde grundsätzlich durch Freizeit ausgeglichen.
Die Anreize, im Rentenalter weiterzuarbeiten, würden lediglich diejenigen gern mitnehmen, die ohnehin als Senior im Job bleiben wollten, meint das Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Um die Folgen des demografischen Wandels einzudämmen, reiche dies nicht.
Weniger Fachkräftemangel durch bessere Integration
Union und SPD visieren eine neue digitale Agentur für Fachkräfteeinwanderung an – eine sogenannte Work-and-Stay-Agentur. Diese soll über eine zentrale IT-Plattform als einheitliche Ansprechpartnerin für ausländische Fachkräfte verfügen, heißt es im Koalitionsvertrag. Die Agentur soll die Fachkräfteeinwanderung wesentlich erleichtern. Auch Geflüchtete sollen schneller auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen.
Sebastian Kautzky findet: „Es ist richtig, die Zuwanderung in Beschäftigung auszubauen sowie die Verfahren zu zentralisieren und konsequent zu digitalisieren.“ Das soll in allen Bereichen der Migrationsverwaltung von Bund und Ländern geschehen. Nur so gelangten internationale Fachkräfte zügig dorthin, wo sie gebraucht werden.
Günstigere Energie, schnellere Genehmigungen
Schon lange vor der Bundestagswahl hatten sich der Verband der Chemischen Industrie (VCI), BAVC und IGBCE für einen Industriestrompreis eingesetzt. Dem Koalitionsvertrag zufolge hat die neue Regierung auf der Agenda, dass energieintensive Unternehmen, zum Beispiel aus der Chemieindustrie, von einem besonders günstigen Industriestrompreis profitieren. Konkret:
- Als Sofortmaßnahme soll die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß sinken.
- Zudem will die Koalition schnell die Umlagen und Netzentgelt mindern. Die Gasförderumlage endet.
- Der Netzausbau soll effizienter und besser mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien abgestimmt werden.
- Die neue Regierung hält an den Klimazielen und am Wasserstoffhochlauf fest.
Was die wettbewerbsfähigen Energiepreise betrifft, so ist es aus Kautzkys Sicht höchste Zeit: „Der Weg zur Klimaneutralität kann nur erfolgreich sein, wenn mit Produktion am Standort Deutschland Geld verdient werden kann.“
Die IGBCE betont, dass sich mit der CO₂-Reduktion sowie schnelleren Planungs- und Genehmigungsverfahren einige ihrer zentralen Forderungen nun im Koalitionsvertrag wiederfinden.
Mehr Brutto vom Netto?
Union und SPD möchten
- die Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislaturperiode senken
- den Kinderfreibetrag und das Kindergeld erhöhen
- Alleinerziehende stärker entlasten.
Indes: Der Solidaritätszuschlag bleibt bestehen. Und zur Senkung der Sozialabgaben findet sich im Koalitionsvertrag nichts. Die Sozialbeiträge, etwa zur Pflege- und Krankenversicherungen, teilen sich Arbeitgeber und Beschäftigte. Steigen diese Beiträge weiter – was zu erwarten ist – bleibt den Berufstätigen weniger vom Bruttoeinkommen. Und Arbeit wird für die deutschen Unternehmen immer teurer.
Darum zeigt sich der BAVC hier enttäuscht. Hauptgeschäftsführer Mathias Schöttke bemängelt: „Was fehlt, ist der Mut zu Reformen in der sozialen Sicherung und eine wirksame Kostenbremse für die Sozialabgaben.“ Sebastian Kautzky ergänzt: „Wird die angestrebte Entlastung bei den Energiepreisen durch steigende Sozialabgaben aufgezehrt, haben wir nichts gewonnen.“
Mehr Förderung statt Verbote
Zur Chemie- und Pharmapolitik heißt es im Koalitionsvertrag unter anderem:
- Ein Totalverbot ganzer Stoffgruppen wie Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS) wird abgelehnt. Stattdessen möchte die Regierung Forschung und Entwicklung von Alternativstoffen voranbringen. Bei der Überarbeitung der REACH-Verordnung setzt sie auf einen risikobasierten Regulierungsansatz.
- Chemisches Recycling wird unterstützt und soll in die Abfallhierarchie integriert werden.
- Die Biotechnologie gilt als Schlüsselindustrie. Gründungen in diesem Bereich sollen leichter werden, unter anderem durch bessere Bedingungen für Wagniskapital. Anwendungen sollen mit weniger Regularien auskommen. Forschung und Entwicklung erhalten einen Schub. Dazu gehört eine Nationale Biobank als Grundlage für Präventions-, Präzisions- und personalisierte Medizin.
Dies seien „ehrgeizige Ziele, um die Branche international wieder an die Spitze zu führen“, meint IGBCE-Chef Vassiliadis. VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup kommentiert: „Jetzt geht es darum, aus guten Absichten konkrete Ergebnisse zu machen – für mehr Wettbewerbsfähigkeit, für ein starkes Europa, für wirtschaftliche Erneuerung.“