Worum geht es im Kern beim Green Deal?
Sandra Parthie: Kurz und knapp ist es dessen Ziel, auf die Klimakrise zu reagieren. Dafür stellt er den Übergang zu einer Wirtschaft, die klimaneutral produziert und konsumiert, auf eine gesetzliche Grundlage. Dies war das bestimmende Thema der Europawahl 2019, und die dann zuständige EU-Kommission hat entsprechend gehandelt: Das Zwischenziel ist die Senkung der Netto-Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis 2030 gegenüber 1990. Das Hauptziel ist die Klimaneutralität bis 2050.
„Der Übergang zur Klimaneutralität ist für die Chemie mit vielen Umstellungen verbunden, etwa beim Ersatz klimaschädlicher Stoffe. Sie kann aber auch anderen Branchen Lösungen anbieten, etwa bei der Entwicklung, zum Beispiel beim Recycling.“
Wo stehen wir jetzt?
Die Welt hat sich seitdem verändert: Durch die Coronakrise haben wir gemerkt, wie abhängig wir von internationalen, Just-in-time-Lieferketten sind, die im Lockdown nicht funktioniert haben. Das erzeugte einen Paradigmenwechsel, ebenso wie der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Dieser zeigte, dass wir uns auf günstige Energie aus Russland nicht verlassen können. Der regulatorische Rahmen des Green Deal hat sich jedoch nicht verändert. Daran müssen wir jetzt arbeiten.
Was heißt das in Bezug auf Energie?
Zwar haben wir einige Alternativen zu russischem Öl und Gas gefunden, gerade in Deutschland. Diese Optionen, etwa Flüssigerdgas, sind allerdings teurer, was die Produktionskosten für europäische Hersteller erhöht. Die Idee des Green Deal war, die Investitionen in fossile Energien zu senken und die in erneuerbare Energien zu steigern. Diese Rechnung geht wegen der unerwartet deutlich gestiegenen Energiepreise nicht mehr auf. Und EU-weit betrachtet bleibt die Abhängigkeit von Russland auf Umwegen im Prinzip bestehen. Parallel dazu geht der Stromnetzausbau nicht im nötigen Maß voran. Folglich steht zum Beispiel günstiger Windstrom aus Norddeutschland den Unternehmen in anderen Regionen nicht zur Verfügung.“
Was ist für die Chemieindustrie besonders wichtig am Green Deal?
„Zwei Dinge: Zum einen ist der Übergang zur Klimaneutralität mit vielen Umstellungen verbunden. Das reicht von der Nutzung Erneuerbarer Energien über den Ersatz klimaschädlicher Stoffe bis zur Kreislaufwirtschaft. Zum anderen kann die Chemie anderen Branchen auch Lösungen anbieten, etwa bei der Entwicklung klimafreundlicher Kühlmittel oder beim Recycling.
Seit der Europawahl in diesem Sommer ist vom Clean Industrial Deal die Rede. Was ist darunter zu verstehen?
Nach dem derzeitigen Stand ist damit mehr Unterstützung für die Industrie gemeint, um den Übergang zur Klimaneutralität zu schaffen. Zugleich gilt es, an Innovationskraft, Skalierbarkeit der Produkte und an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Europäische Produkte sollen innerhalb der EU und auf den internationalen Märkten erfolgreicher werden. Der aktuelle Bericht des Ökonomen Mario Draghi zur „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ nennt ein erforderliches Investitionsvolumen von 800 Milliarden Euro. Wenn man bedenkt, dass der Jahreshaushalt der EU 190 Milliarden Euro beträgt, wird klar, dass auch nationale und private Gelder fließen müssen.
Wie passt das zum Green Deal?
Die Vorstellung ist, die Umsetzung der Green-Deal-Vorgaben in der Praxis mit Unterstützungsmaßnahmen zu flankieren, da sich abzeichnet, dass die Transformation nicht so einfach ist und mehr Zeit braucht. Einige Regelungen, etwa zu alternativen Antrieben, könnten sich als zu detailliert herausstellen. Damit der Übergang nicht ganz ins Stocken kommt, sollte die EU im Sinne der Wirtschaft nachjustieren.
Das Verbot neuer Verbrennermotoren ab 2035 wäre so ein Beispiel. Wenn es kippt, was heißt das für Hersteller und Zulieferer, die sich bereits auf die E-Mobilität eingestellt haben?
Das ist maximal unangenehm. Für langfristige Planungen und Investitionen braucht man Klarheit. Geht man hier hinter bereits gefasste Beschlüsse zurück, stellt sich die Frage, ob dies in anderen Bereichen ebenso passiert. Aber noch hat sich das neu zusammengesetzte Europaparlament nicht mit dieser Frage befasst. Klimaschutzkritische Positionen sind dort nun stärker vertreten. Zugleich bedeutet unser marktwirtschaftlich organisiertes Europa mit seinen diversen Mitgliedstaaten, dass es eine Vielzahl an Lösungen für klimafreundliche Mobilität gibt. Das unterscheidet uns von China mit seinem standardisierten Massenmarkt.
Wie kommt die EU mit der Kreislaufwirtschaft voran?
Wenn ich mir die Zahlen und Analysen aus dem Draghi-Bericht anschaue, gibt es hier gute Erfolge. Demnach haben wir in der EU den Anteil von Sekundärrohstoffen auf ungefähr 25 Prozent des Verbrauchs angehoben. Bei einigen Metallen werden sogar weitaus mehr als 50 Prozent recycelt. Die Digitalisierung kann dies unterstützen, indem man Abfallströme besser verfolgt. In der Förderung neuer Technologien, die zum Beispiel mehr Verbundmaterialien trennen können, liegt viel Potenzial.
Dürfen Unternehmen auf eine unbürokratischere EU hoffen?
Im Moment steht Entbürokratisierung auf der Agenda aller Ressorts. Und zusätzlich ist das Thema explizit als Zuständigkeitsbereich eines Kommissionsmitglieds benannt. Einige Bemühungen der EU-Kommission, insbesondere die Berichtspflichten zu reduzieren, sind bereits im Gange. Zudem ist hier in Brüssel immer wieder zu hören, dass man sich erstmal auf die Umsetzung von Beschlüssen konzentrieren will, statt neue Regulierungen zu schaffen. Dies ist auch ein Appell an die Mitgliedstaaten, sich an einen einheitlichen Rahmen zu halten und diesen nicht durch eigene zusätzliche Vorgaben komplizierter machen.
Green Deal, Clean Industrial Deal: Was ist was?
Der European Green Deal von 2019 soll die EU bis 2050 klimaneutral machen. Er umfasst Bereiche wie Naturschutz, Verkehr, Gebäude und erneuerbare Energien. Zum Start ihrer neuen Amtszeit im Sommer 2024 kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Clean Industrial Deal an. Er konzentriert sich auf Wettbewerbsfähigkeit und Dekarbonisierung. Vorgesehen sind mehr Investitionen in Infrastruktur und energieintensive Industrien, schnellere Genehmigungen und niedrigere Energiepreise. Ein neuer EU-Wettbewerbsfonds soll dabei helfen.