Selten wurde eine Medizin so sehnsüchtig erwartet wie der Corona-Impfstoff. Die Spritze gegen die Pandemie. Der Piks, der Leben, Freude und Bewegungsfreiheit zurückbrachte. Die Welt verdankt ihn unter anderem der jungen Mainzer Firma Biontech. Die Mediziner Uğur Şahin, Özlem Türeci und ihre Teams entwickelten das lebensrettende Präparat in Rekordzeit. Das Besondere an ihrem Impfstoff: Er funktioniert nach einem neuartigen Wirkmechanismus.
Biontech ist ein Paradebeispiel dafür, wie aus einem Start-up aus der Chemie- und Pharmaindustrie ein großes Unternehmen werden kann, das die Welt verändert. Wie es viele Start-ups tun: mit Produkten, die deutlich besser, einfacher oder schneller sind als herkömmliche, sowie neuen, disruptiven Geschäftsideen – von Online-Handel, Lieferdiensten, Musik-Streaming bis zu digitalen Währungen. Start-ups setzen solche Innovationen eher in die Welt, weil sie klein, schnell, agil sind, nicht durch Verwaltung gebremst werden und auf Altbewährtes nicht viel Rücksicht nehmen müssen.
Deshalb sind Start-ups auch für die Chemieindustrie wichtig, erklärt Projektleiter Christian Rammer vom Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW in Mannheim. Er hat im vergangenen Jahr eine Studie zur Bedeutung von Start-ups in der Branche erstellt. „Gründerfirmen tragen dazu bei, dass Altes Platz macht und Neues eine Chance bekommt“, sagt Rammer. Das gilt auch für grüne Lösungen. „Start-ups entwickeln nachhaltige Chemie, klimaschonende Produkte oder Verfahren für die Energiewende. Bei 36 Prozent der Start-ups gehört das zum Geschäftsmodell.“ Ein weiteres Fünftel bietet einzelne Produkte oder Dienstleistungen dafür an. Kurz: Gründerfirmen entwickeln oft das, was die Branche für die klimaneutrale Produktion braucht. So stellt etwa das Karlsruher Unternehmen Ineratec nachhaltigen Treibstoff aus dem Klimagas CO2 und grünem Wasserstoff her. Das passiert in containergroßen Anlagenmodulen. Ab 2024 soll ein Großbetrieb in Frankfurt jährlich 2.500 Tonnen erzeugen, kündigt Firmenchef Tim Böltken an: „Diese Pionieranlage ist ein Meilenstein für den E-Fuel.“
Chemie: 25 bis 30 Gründungen pro Jahr
Innovationen beschleunigen will das Mainzer Start-up IpOcean. „Um bei der Geschäftsanbahnung oder bei Kollaborationen Geschäftsgeheimnisse, geistiges Eigentum sowie Ideen in Echtzeit zu schützen, bieten wir eine Interaktions-Plattform mit Blockchain im Hintergrund“, erklärt Gründer Holger Geissler. Entwickelt wurde die Plattform zusammen mit renommierten Unternehmen. Der Pharmakonzern Merck und die Chemikergesellschaft GDCh haben sie schon eingesetzt.
Ineratech und IpOcean sind zwei von mehr als 350 Chemie-Start-ups hierzulande. Dazu zählen laut Start-up-Datenbank zum Beispiel auch die Ludwigshafener Firmen Schäfer Additivsysteme, ein Hersteller von Zusatzstoffen, sowie der Spezialist für Hochleistungskeramik Xeram. Jedes Jahr entstehen laut der ZEW-Studie 25 bis 30 weitere Gründerfirmen in der Branche. Gemessen an den im ersten Halbjahr 1.300 Neugründungen in allen Sparten ist das aber extrem wenig. Warum ist das so? Welche Probleme bremsen die Chemiegründer?
Chemie-Start-ups haben oft einen viel längeren Weg zum Erfolg als etwa IT-Firmen. Gründer wie Bill Gates oder Steve Jobs, die einst am Rechner in der Studentenbude oder einer Garage mit einer neuen Software oder App loslegten, konnten rasch mit ihren Erfindungen auf den Markt. Gründer in der Chemie dagegen müssen neue Chemikalien und Produkte registrieren lassen, ein Herstellungsverfahren entwickeln, dafür Anlagen bauen und behördlich genehmigen lassen, berichtet Denise Schütz-Kurz, Referentin für Innovation beim Verband der Chemischen Industrie (VCI). „Das alles kann zehn Jahre oder mehr dauern und erfordert enorm viel Kapital.“ Viele Geldgeber im Start-up-Geschäft aber möchten möglichst rasch Rendite erwirtschaften. Daher meiden sie junge Chemiefirmen.
Das zeigt sich auch in Zahlen: Von den Investitionen der Jahre 2019 bis 2021 flossen laut der ZEW-Studie satte 4,3 Milliarden Euro an Gründerfirmen in Informations- und Kommunikationstechnik. Chemie- und Material-Erfinder sammelten nur magere 14 Millionen Euro ein. Experte Rammer: „Zwei Drittel der Chemie-Start-ups fehlen Finanzierungsmittel.“ Das bremst sie enorm.
VCI fordert industriepolitischen Neustart
Geldspritzen holen sich die Firmen deshalb vielfach über Förderprogramme von Bund, Ländern oder der EU. Die Firma CompActive in Neustadt an der Weinstraße etwa entwickelt, gefördert vom Bundesforschungsministerium, für die Autoindustrie raumsparende Lüftungsklappen. Mit Kapital beteiligen sich auch Fonds, private Investoren („Business Angels“) sowie Mäzene wie beispielsweise der SAP-Mitgründer und Fußballförderer Dietmar Hopp. Wichtigste Geldquelle der Gründer sind meist die Eigenmittel. Im Klartext: Die Start-ups generieren Umsatz, um Geld für ihr Projekt einzunehmen.
Wie etwa die Firma Bio-Gram Diagnostics in Worms. Das Start-up hat sich auf vollautomatisierte und nachhaltige Färbesysteme für Blutausstriche und Mikroorganismen spezialisiert. Als kurz nach der Gründung Corona übers Land brach, entwickelten die Gründer einen einfacheren Schnelltest und verkauften die Sets. Zugleich trieben sie die Entwicklung ihrer Diagnostik-Produkte voran. Dieses Jahr sollen die ersten 400 Färbeausstrichsysteme in den Handel gehen. Laboratorien können damit Krankheiten und Bakterien diagnostizieren. Aber klar ist auch: Viele andere Gründer sind auf Geld von außen angewiesen.
Wie lässt sich die Förderung verbessern? „Die Gründer brauchen Fonds und Förderprogramme, die geduldig und langfristig Kapital bereitstellen“, fordert VCI-Expertin Schütz-Kurz. Mit dem Zukunftsfonds habe die Bundesregierung erste Schritte in diese Richtung getan, aber manches sei noch zu verbessern. „Nötig sind weniger Hürden bei den Anträgen und schnellere Bewilligungen“, sagt sie. „Und wir brauchen Bürokratie-Abbau.“ Planungs- und Genehmigungsverfahren müssten für Start-ups, die nicht die Manpower wie Konzerne haben, vereinfacht werden und schneller gehen. „Jahrelange Verfahren können für Gründerfirmen das Aus bedeuten.“ Angesichts der enormen Reglementierung fordert der Branchenverband einen „industriepolitischen Neustart“ für ein wettbewerbsfähiges Europa. Stattdessen entwickelt die EU neue Vorgaben für sichere und nachhaltige Innovationen. Bestimmte Stoffe aus dem Baukasten der Chemiker kommen dabei generell unter Verdikt, auch wenn sie zum Herstellen nachhaltiger Innovationen nötig sind. Das bringe Probleme für die Unternehmen, warnt Schütz-Kurz: „Da sind Forschungsfreiheit und Technologieoffenheit in Gefahr.“ Beide sind Voraussetzung, um Ideen für die Zukunft voranzutreiben. Und natürlich Start-ups – am besten möglichst viele.
„Forum Startup Chemie“: Hier gibt es Tipps für Gründer
Erste Adresse für Gründer in der Chemie ist das „Forum Startup Chemie“. Es greift den Start-ups mit Know-how, Kontakten und Experten unter die Arme. Entstanden ist das Forum (forum-startup-chemie.de) 2018 durch eine Initiative des Verbands der Chemischen Industrie, der Gesellschaft Deutscher Chemiker, des Technikverbands Dechema sowie weiterer Organisationen. Und das bietet das Forum:
- Eine Start-up-Datenbank. Eine Online-Datenbank listet alle 350 Chemie-Start-ups hierzulande mit Sitz, Geschäftsmodell, Produkten und Internet-Adresse auf. So werden sie für potenzielle Kunden und Geschäftspartner in der Branche sichtbar. Suchen lassen sich die Firmen nach Zielmärkten, Produkten und Technologien.
- Wichtige Kontakte. Auf der Webseite des Forums finden Gründer Angaben und Links zu Innovationszentren, Einrichtungen zur Gründungshilfe (sogenannten Inkubatoren) sowie zur Wachstumshilfe (Acceleratoren). Auch zu Förderprogrammen und Investoren ist sie verlinkt.
- Hilfe bei der Vernetzung. Vernetzung und Kontakte sind das A und O für Gründer. Mit Veranstaltungen, über Webinare oder via Geschäftsstelle vernetzt das Team des Forums Gründungswillige mit Experten, Unterstützern oder Geldgebern.