„Deutschland kann und sollte sich mit einem Embargo positionieren. Wir können auf russisches Gas verzichten“
Claudia Kemfert, Energieökonomin und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)
Wir sollten so schnell wie möglich ein Embargo für Energieimporte aus Russland umsetzen. Öl und Kohle können wir nicht nur von dort, sondern auch aus anderen Ländern beziehen. Bei Kohle ist das überhaupt kein Problem, da sie auf den internationalen Märkten ausreichend vorhanden ist. Ebenso beim Öl: Es ist weltweit nicht knapp, sondern „nur“ teuer. Beim Gas ist es zwar etwas komplizierter, doch eine kürzlich bei uns am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erschienene Studie belegt: Wir können auf russisches Gas verzichten, wenn wir drei Dinge tun: erstens Gas aus anderen Ländern beziehen, zweitens die Speicher im Sommer ausreichend auffüllen und drittens den Verbrauch senken. Dann gäbe es im nächsten Winter keine Engpässe.
Genau wie in der Corona-Pandemie sollte der Staat alle Möglichkeiten ergreifen, um die Wirtschaft zu schützen und eine Rezession zu vermeiden. Das beginnt mit dem Kurzarbeitergeld und Wirtschaftshilfen und geht bis hin zu konkreten Wirtschaftsprogrammen, etwa für die energetische Gebäudesanierung, den Ausbau der Ladeinfrastruktur und die Stärkung des Schienenverkehrs. Der Chemieindustrie kann gezielt geholfen werden, bestenfalls mit der Bedingung, dass die Branche in Energieeinsparmaßnahmen investiert, in Alternativen zum Gas wie grünen Wasserstoff oder – wo möglich – in den Einsatz von industriellen Wärmepumpen.
Deutschland kann und sollte sich positionieren, um Schäden abzuwenden. In der Corona-Krise haben wir gelernt, wie es funktioniert: Wir müssen die Resilienz der eigenen Volkswirtschaft erhöhen, unnötige Lieferabhängigkeiten vermeiden, auf die heimische Wirtschaft setzen und diese stärken.
Beispielsweise haben wir die Solarindustrie sehenden Auges fast vollständig abwandern lassen – das war ein Fehler. Heute siedeln sich wieder einzelne Unternehmen an. Gut so, denn wir benötigen sehr viel mehr Produktion in Deutschland und in Europa.
„Eine starke deutsche Volkswirtschaft hilft den Ukrainern mehr als ein Boykott. Und niemand weiß, ob ein Embargo Frieden bringt“
Wolfgang Große-Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI)
Unter den Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine leiden die Menschen entsetzlich. Aber ein sofortiger und unbefristeter Boykott des Imports von Erdgas aus Russland als Gegenmaßnahme würde Deutschland mehr schaden als den Kriegstreibern im Kreml. Das kann nicht der Sinn von Sanktionen sein. Die sozialen Verwerfungen für Hunderttausende Beschäftigte, die negativen Folgen für das Produktionsnetzwerk und für die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Lebens wären unabsehbar. Eine geschwächte deutsche Volkswirtschaft hilft den Ukrainern nicht – weder kurz- noch langfristig. Und niemand weiß, ob ein Embargo Putin zum Einlenken zwingen könnte, Frieden zu schließen.
Erdgas ist als Energieträger und Rohstoff für die Produktion in der Chemie derzeit unverzichtbar. Stoppt die Versorgung, geht nichts mehr in der Branche. Rund 100 Terawattstunden Erdgas werden pro Jahr für die Erzeugung von Dampf und Strom benötigt – das sind 15 Prozent des Gesamtverbrauchs in Deutschland. Erdgas ist aber auch ein wichtiger Rohstoff für die Chemie: 2,8 Millionen Tonnen gehen in die Herstellung wichtiger Grundchemikalien wie Ammoniak und Acetylen oder für die Gewinnung von Wasserstoff ein.
Ein Produktionsstopp hätte massive Folgen für die Wertschöpfungsketten. Fast alle Industrieerzeugnisse in Deutschland benötigen heute in ihrer Entstehung Chemieprodukte – ob Autos, Computerchips oder Verpackungen. Aber auch Medikamente, Düngemittel für die Landwirtschaft oder Wasch- und Reinigungsmittel für die Hygiene gibt es nicht ohne die energieintensive Produktion von Grundchemikalien. Selbst bei erneuerbaren Energiequellen wie Photovoltaik und Windkraft sind chemische Werkstoffe unersetzlich.
Tatsache ist: Die Gaslieferungen aus Russland lassen sich nicht von heute auf morgen, sondern nur schrittweise mittelfristig ersetzen. Eine starke deutsche Volkswirtschaft hilft den Ukrainern mehr als ein Boykott.