Ulrike Winzer fordert Menschen auf, endlich zu handeln und den Einheitsbrei des „Gewohnten“ zu verlassen. Die gefragte Beraterin lebt in Nordrhein-Westfalen.
„Den Hintern hochkriegen – jetzt!"
Wenn man nicht gerade mit dem Rücken zur Wand steht (Leidensdruck) oder aber die Verlockung unwiderstehlich ist (Leidenschaft), dann ist die Bereitschaft zum Handeln bei vielen Menschen minimal. Gerade weil es uns gut geht, ist es schwer, die Komfort-Couch zu verlassen und zu sagen, ich will und werde jetzt handeln. Läuft doch!
Oft zögern wir zu lange. Wenn wir doch agieren, dann planen wir gerne alles bis ins Detail. Das entspricht unserem Sicherheitsbedürfnis: Je mehr ich plane, desto sicherer scheint das Ergebnis, desto geringer das Risiko, umso weniger kann mir später ein Vorwurf gemacht werden. Doch wer zu lange und zu intensiv plant, setzt in der Umsetzung auf Daten, die längst überholt sind. Zudem ist die Realität komplex und voller unplanbarer Entwicklungen. Beim Autofahren wissen wir das. Wir könnten für eine Fahrt vorab jeden Streckenabschnitt auf Basis der erlaubten Geschwindigkeit minutiös berechnen. Das macht jedoch niemand. Wir fahren mit einem minimalen Plan (=Grobkalkulation) los und handeln situativ.
Gerne fragen wir: Was kostet Veränderung? Viel zu selten fragen wir uns: Was kostet Stillstand? Was kostet es, wenn ich weitermache wie bisher? Die Verwaltung des aktuellen Zustands – das „Weiter so“ – ist keine Verlockung, die Menschen inspiriert. Abwarten ist weder Vision noch Strategie. Die Welt um uns herum – Menschen und Unternehmen – verändert sich nämlich trotzdem. Wer verharrt, wird schnell zum Getriebenen!
Wer clever ist und nicht warten will, bis der Leidensdruck erdrückend wird, der braucht Veränderung. Ein erster Schritt, um der Veränderung den Schrecken zu nehmen, ist das Ausprobieren von Ungewohntem und Dingen, um die man lieber einen Bogen macht. Zum Beispiel mit zwei verschiedenen Schuhen in die Stadt gehen oder endlich die Gehaltserhöhung ansprechen. Wer mit einfachen Dingen loslegt, stellt fest: Es ist gar nicht so schlimm. Das baut im Gehirn neue Verbindungen auf und schafft ein Fundament für größeren Wandel.
Unser Gehirn und Google funktionieren nämlich ähnlich: Dinge, die sich wiederholen, werden als „wichtig“ und „richtig“ erkannt und auf Position eins gespült. Wenn ich mir immer sage, ich kann das nicht und das geht nicht, dann glaube ich mir das. Wenn ich aber neue Dinge regelmäßig ausprobiere, dann lernt mein Gehirn. Also: nicht noch eine Folge der Lieblingsserie schauen, sondern mal einen Artikel über künstliche Intelligenz lesen. Das ist eine Überwindung der eigenen Komfortzone.
Gerade für die Chemiebranche ist Veränderung elementar. Sie ist mitten in einer großen Transformation – eine Riesenchance mit Blick auf Energiegewinnung, Kreislaufwirtschaft und die Schlüsselrolle chemischer Produkte zu den Technologien für eine klimaneutrale Wirtschaft. Die eigene Veränderung sichert den eigenen Arbeitsplatz. Welchen Preis zahlt das Unternehmen, welchen Preis zahlen wir, wenn wir stehen bleiben? Wollen wir Treiber oder Getriebene sein? Wir alle haben es in der Hand. Worauf warten Sie, bis Sie durchstarten?
Hans-Georg Willmann unterstützt Menschen bei der Verwirklichung ihrer Karriere- und Lebensziele. Seit 2016 lebt er in Australien und berät von dort aus weltweit.
„Stopp! Erst gründlich nachdenken"
Auf zu neuen Ufern? Beim überstürzten Aufbruch kann das schwer in die Hose gehen. Natürlich soll man auch nicht abwarten bis zum Sankt Nimmerleinstag. Aber sich bei Veränderungen die Zeit nehmen und gründlich darüber nachdenken, ist immer eine gute Option. Die meisten Menschen wollen sich ja beruflich verändern, weil ein Bedürfnis nicht befriedigt ist. Vielleicht wird die Arbeit nicht als erfüllend erlebt. Oder die Unternehmensstruktur hat sich verändert und man passt gefühlt nicht mehr hinein. Oder alles ist so stressig geworden, man sehnt sich nach einem anderen Arbeitsplatz. Aber Vorsicht! Nicht gleich Tatsachen schaffen und dem Chef die Kündigung auf den Tisch knallen! Zum Handeln gehört stets ein guter Plan, wie es weitergehen soll. Denn man nimmt sich bekanntlich selbst überall hin mit. Wird im nächsten Job wirklich alles anders?
Ein Beispiel: Da bietet sich mir vielleicht die Chance, mit 50.000 Euro schnell in ein Start-up einzusteigen. Aber mir fällt die Entscheidung schwer. Dann ist das ein sicheres Zeichen, dass ich erst meine Hausaufgaben machen und die Situation klären muss. Hat das Start-up wirklich eine tragfähige Idee? Wie ist es aufgestellt? Kann ich eine Durststrecke finanziell überstehen? Eine gute Möglichkeit wird nicht über Nacht weg sein. Wer mein Geld als Startkapital nehmen möchte, wird morgen auch noch Interesse daran haben. Also erst einmal durchatmen und recherchieren, ob das Projekt Hand und Fuß hat.
Ich habe zudem immer das Bild eines Flugzeugs im Kopf: Wer durchstarten will, muss schauen, ob genügend Sprit im Tank ist. Das heißt: Wie lange ist meine Kündigungsfrist? Trage ich soziale Verantwortung? Muss ich für meine Kinder sorgen oder ein Haus abbezahlen, habe ich finanziellen Spielraum? Verfüge ich über genügend Qualifikationen, bin ich gesundheitlich gut aufgestellt? Erst einmal die Basis checken und dann einen soliden Plan aufstellen. Dazu sollte man sich Rat einholen. Vielleicht bei einem professionellen Coach, der sich mit Karrierethemen oder mit Unternehmensgründung auskennt – je nachdem, wohin die Reise gehen soll. Je größer oder gefährlicher die Veränderung ist, umso wichtiger wird die Unterstützung durch andere.
Zudem benötigt Veränderung viel Energie – wie das Durchstarten beim Flieger. Ich muss die Risiken richtig einschätzen, sonst erlebe ich eine Bruchlandung. Eines steht jedenfalls fest: Ich muss bereit und in der Lage sein, den Preis für die Veränderung zu zahlen. Das muss ich prüfen und mich selbst immer wieder fragen. Eine Veränderung bedeutet, ich verlasse meine Komfortzone. Das macht jedem erst einmal Angst und kostet ebenfalls sehr viel Kraft.
Wer die eigene Unsicherheit und Angst mit Aktionismus überspielt, ist schlecht beraten. Für meinen Umzug nach Australien samt einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung habe ich mir zwei Jahre Zeit genommen, um alles korrekt vorzubereiten.