Eine Erhöhung der Entgelte in der Spanne von 6 bis 7 Prozent, mehr tariflichen Schutz für IGBCE-Mitglieder und eine Modernisierung des Bundesentgelttarifvertrags: Diese drei Punkte umfasst die Forderungsempfehlung für die chemisch-pharmazeutische Industrie, die der Hauptvorstand der Gewerkschaft IGBCE einstimmig beschlossen hat. Er gibt damit den Startschuss für die Tarifrunde des drittgrößten deutschen Industriezweigs mit 585.000 Beschäftigten in 1700 Betrieben und mit 230 Milliarden Euro Umsatz.
Die Bundestarifkommission der Chemie-Gewerkschaft muss dem Vorschlag im April nach Beratungen an der Basis noch zustimmen. Das gilt in der Regel als Formsache. Die Verhandlungen auf regionaler Ebene beginnen dann am 15. April.
„Dies ist eine Forderungsempfehlung mit Maß und Mitte“, sagte IGBCE-Tarifvorstand und Chemie-Verhandlungsführer Oliver Heinrich. Sie überfordere auf Unternehmensseite niemanden, aber helfe auf Belegschaftsseite vielen, sagte er. „Wir wollen den Menschen den Optimismus zurückbringen und die Binnennachfrage stärken. Das hilft nicht nur unseren Mitgliedern, sondern auch dem Wirtschaftsstandort.“
Kritik an überzogenen Forderungen
Der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) sieht das allerdings ganz anders. „Die Forderungen der IGBCE für die kommende Tarifrunde sind weder krisengerecht noch finanzierbar“, kritisiert BAVC-Hauptgeschäftsführer Klaus-Peter Stiller. „Die Branchendaten sprechen eine deutliche Sprache: 2023 ist die Produktion erneut eingebrochen, um weitere 8 Prozent.“ Die Produktion am Standort Deutschland ist damit in vier der letzten fünf Jahre geschrumpft. Der Branchenumsatz lag mit minus 12 Prozent noch tiefer in den roten Zahlen. In weiten Teilen der chemischen Industrie ging die Beschäftigung in den vergangenen Monaten zurück.
„Auch im laufenden Jahr ist kein Wachstum in Sicht, im Gegenteil: 2024 steuert die Chemie auf eine Krisen-Tarifrunde zu“, betont Stiller. „Wo keine Zuwächse sind, können wir auch keine verteilen. Wir stehen vor der gewaltigen Aufgabe, unsere Branche durch eine tiefgreifende Krise zu steuern und zeitgleich die Jahrhundertaufgabe Transformation zu bewältigen.“
Gewerkschaft und Arbeitgeber seien in der Pflicht, die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Arbeitsplätzen in den Mittelpunkt zu stellen. „Bereits jetzt stehen in zahlreichen Unternehmen Restrukturierungen und auch Stellenabbau auf der Tagesordnung. Mit der Chemie-Tarifrunde 2024 müssen die Sozialpartner vor allem dazu beitragen, Standort und Beschäftigung zu schützen.“
Beschäftigte verdienen im Schnitt mehr als 73.000 Euro
Die hohe Erwartungshaltung der IGBCE komme zudem zur Unzeit angesichts der gerade erst in Kraft getretenen zweiten Stufe der Tariferhöhung aus dem Chemie-Tarifpaket 2022. „Zum 1.1.2024 haben wir die Tabellenentgelte erneut um 3,25 Prozent erhöht. Zusätzlich haben die Beschäftigten im Januar 1.500 Euro steuer- und beitragsfreies Inflationsgeld erhalten – brutto für netto. Für viele Unternehmen ist das ein absoluter Kraftakt“, betont Stiller. Die IGBCE gehe zu weit, wenn sie mitten in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten noch mehr draufsatteln wolle. „Jedes zusätzliche Zehntel würde die Betriebe dem Abgrund näherbringen und am Ende Arbeitsplätze kosten.“
„Hinzu kommt: Die Inflation dürfte in diesem Jahr wieder unter drei Prozent liegen. Ohne jede weitere Tariferhöhung werden die Chemie-Beschäftigten 2024 real wieder mehr in der Tasche haben.“ Stiller weiter: „Nachholbedarf besteht vielleicht in anderen Branchen, aber nicht in der Hochlohn-Industrie Chemie und Pharma. Tarifbeschäftigte in Vollzeit kommen bei uns im Schnitt auf über 73.000 Euro im Jahr und liegen damit weit vorne im Branchenvergleich.“
„Ganz gleich, ob man es Nachteilsausgleich, Bonus oder Mitgliedervorteil nennt – Differenzierung auf Basis der Gewerkschaftszugehörigkeit spaltet die Belegschaften und findet keine Akzeptanz auf Arbeitgeberseite“, kontert BAVC-Hauptgeschäftsführer Stiller die Forderung nach Vorteilen für Gewerkschaftsmitglieder. „Instrumente, die auf unserer Seite Mitglieder kosten, führen in die Sackgasse. Die IGBCE sollte sich von dem Wunsch verabschieden, eine direkte oder indirekte Besserstellung für Gewerkschaftsmitglieder zu vereinbaren.“ Zur Stärkung der beiderseitigen Tarifbindung seien in erster Linie die Sozialpartner selbst gefragt: mit attraktiven Tarifverträgen, modernen Sozialpartner-Vereinbarungen und dem Willen zur Veränderung.
Gesprächsbereit für Modernisierungen
Bei der Modernisierung des Bundesentgelttarifvertrags signalisieren die Arbeitgeber Gesprächsbereitschaft: „Auf Seiten der Arbeitgeber gibt es seit Langem Forderungen nach einer Entschlackung der Chemie-Tarifverträge. Wir werden eine Reihe von Vorschlägen in diese Diskussion einbringen, die Komplexität reduzieren und den Chemie-Tarif attraktiver machen können“, so Stiller. Dies müsse nicht auf den Bundesentgelttarifvertrag beschränkt bleiben.