Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Flexibilität. Das gilt für die Inhalte des neuen Chemie-Tarifabschlusses. Und es gilt für den Ablauf dieser Tarifverhandlungen: Im Frühjahr hatten Arbeitgeber und IGBCE sich zunächst auf eine Brückenzahlung von bis zu 1.400 Euro verständigt und sich auf Oktober vertagt – in der Hoffnung, dass die wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dann klarer wären. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Energiekrise verschärft die Unsicherheit, sie belastet Beschäftigte und Unternehmen enorm und könnte sich zur Standortkrise auswachsen.
Explodierende Energiepreise und der langfristige Wandel durch Klimaschutz, Digitalisierung und Demografie werden die Chemieindustrie und die Beschäftigten weiterhin fordern. Die Tarifeinigung erlaubt aber eine Atempause: „Wir bieten unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine substanzielle Unterstützung bei der Bewältigung der Krise“, sagte Hans Oberschulte, Vehandlungsführer des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC), nach der Einigung am 18. Oktober.
Die Einigung im Überblick
Entgelt
Die Beschäftigten der Chemie- und Pharmabranche erhalten ab 1.1.2023 in einem ersten Schritt zunächst 3,25 Prozent mehr Entgelt. Ab 1.1.2024 steigen die Entgelte um weitere 3,25 Prozent. Die Ausbildungsvergütungen steigen entsprechend. Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 20 Monate. Die Brückenregelung von April eingerechnet, beträgt die Laufzeit 27 Monate.
Inflationsgeld
Tarifbeschäftigte erhalten ein einmaliges steuer- und beitragsfreies Inflationsgeld in Höhe von 3.000 Euro, das in zwei Tranchen von je 1.500 Euro spätestens zum 31.1.2023 bzw. 31.1.2024 ausgezahlt wird. Teilzeitbeschäftigte erhalten eine anteilige Zahlung, mindestens aber je 500 Euro. Auszubildende erhalten je Tranche 500 Euro Inflationsgeld. Ziel ist, die gestiegenen Lebenshaltungskosten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Chemie teilweise auszugleichen, aber dauerhafte Belastungen der Unternehmen zu begrenzen.
Differenzierung
Beide Stufen der Entgelterhöhung sind flexibilisiert. Unternehmen können aus wirtschaftlichen Gründen jeweils um bis zu drei Monate verschieben: bei roten Zahlen um zwei Monate, bei einer Nettoumsatzrendite unter drei Prozent um einen Monat. Auf Basis einer Betriebsvereinbarung sind auch drei Monate Verschiebung möglich.
Verantwortung in der Krise gezeigt
Oberschulte sprach von einem „krisengerechten Abschluss. Zentrale Pluspunkte für die Arbeitgeber sind langfristige Planungssicherheit und eine insgesamt ausgewogene Kostenbelastung.“ Richtung Mitarbeitende betonte er: „Wir decken die beiden schwierigen Winter ab, die nun vor uns liegen, und wir zeigen unseren Beschäftigten, dass wir ihre Arbeit und ihren großen Einsatz wertschätzen.“ Nach IGBCE-Angaben beträgt die Nettoentlastung im Schnitt aller Entgeltgruppen knapp 13 und in der Spitze fast 16 Prozent.
Als erste große Industriebranche, die angesichts von Krieg und Krise einen Tarifabschluss finden musste, stand die Chemie unter besonderer Beobachtung. Beide Sozialpartner betonten deshalb ihre Verantwortung dafür, die Unsicherheit bei den Menschen nicht weiter zu verstärken: „Wir müssen an den Standort Deutschland denken und deshalb einen Kompromiss suchen, nicht den Konflikt", sagte BAVC-Präsident Kai Beckmann nach der Einigung. IGBCE-Vize und -Verhandlungsführer Ralf Sikorski wurde noch deutlicher: „Es ist verdammt nochmal unser Job, Lösungen zu finden.“ Schließlich sind die anhaltenden Herausforderungen groß genug.
Mehr Informationen zur Tarifrunde #Chemie22 gibt es auf den Seiten des BAVC.