Von wegen goldene 20er Jahre - derzeit spricht vieles für wirtschaftliches Long-Covid. Natürlich gibt es in der Chemie positive Trends in einzelnen Branchen und Unternehmen. Bestes Beispiel ist der Boom der Corona-Impfstoffe. Das Gesamtbild aber bleibt eher trüb.
Aufschwung ausgeblieben
Der erhoffte Aufschwung der Industrie in Deutschland verzögert sich immer weiter. Schon das Jahr 2021 enttäuschte mit einem unerwartet mageren Zuwachs von 2,7 Prozent. Zum Jahresende 2021 lag die Industrieproduktion hierzulande immer noch um rund 11 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Das bekommt gerade die Chemie zu spüren. Schließlich liefert sie viele Vorprodukte an andere Industriesektoren - darunter als Hauptkunde die Automobilindustrie. Und die hat im vergangenen Jahr ganze 44 Prozent beziehungsweise 240.000 weniger Pkws hergestellt als zehn Jahre zuvor. Für die Chemieunternehmen bedeutet das: weniger Lacke und Kunststoffstoßstangen, weniger Dichtungen und Reifen, weniger Fasern und Schaumstoffe für Sitze.
Mehr Investitionen im Ausland als im Inland
Die Investitionen in Produktionsanlagen und Gebäude sind bei Chemie und Pharma über die Jahre hinweg deutlich gestiegen. Seit genau zehn Jahren investieren die Unternehmen allerdings mehr im Ausland als im Inland. Das unterstreicht einerseits ihre weltweite Vernetzung und ihren Fokus auf Wachstumsregionen. Es ist andererseits aber auch ein Alarmsignal, was die Attraktivität des Chemiestandorts Deutschland angeht.
Steigende Preise für Energie und Rohstoffe belasten Unternehmen
Die steigenden Preise für Rohstoffe und Energie verteuern die Produktion bei Chemie und Pharma spürbar. Betroffen sind praktisch alle Unternehmen. Und bei den meisten von ihnen schlagen die Kosten auf die Gewinne durch, weil sie nur einen Teil der gestiegenen Preise an Kunden weitergeben. Die anhaltende Nachfrage macht das zwar möglich. Unterm Strich leidet so aber auch die Investitionsfähigkeit der Unternehmen etwa ins Personal. Jeder siebte Betrieb bleibt komplett auf seinen höheren Bezugskosten sitzen. Die Situation führte zum Teil sogar dazu, dass Unternehmen manche Anlagen nicht mehr wirtschaftlich betreiben können.
Viele Bestellungen bleiben wegen Materialmangel liegen
Die weltweiten Lieferengpässe treffen die Unternehmen bei Chemie und Pharma schwer. Oft stockt die Produktion, weil eigene Lieferanten nicht nachkommen. Häufig bremsen aber auch Ausfälle bei Kunden: Wenn etwa Chips fehlen, können keine Autos, Elektrotechnik oder Flugzeuge gebaut werden. Und dann brauchen Unternehmen auch keine Zulieferungen aus der Chemie. In der Folge musste jeder dritte Branchenbetrieb die Produktion zuletzt drosseln. Jeder zehnte Betrieb hat sogar Anlagen vorübergehend stillgelegt. Vor allem aber blieben wegen der Engpässe fast überall Kundenbestellungen liegen: Es kam zu Lieferverzögerungen und häufig sogar zu Ausfällen.
Kostendruck behindert Betriebsabläufe
Die Preise für Energierohstoffe sind im Verlauf von 2021 geradezu explodiert. Ob Erdgas, Rohöl oder Kohle: Alles verteuerte sich innerhalb kürzester Zeit. Besonders hohen Druck machten die Preise für europäisches Erdgas. Sie stiegen allein im Dezember 2021 um fast 26 Prozent gegenüber dem Vormonat. Das berichtet das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Die Folgen sind gravierend. Zahlreiche Unternehmen bei Chemie und Pharma meldeten zuletzt: Die Energiepreise behindern die Betriebsabläufe. Das ergab die jüngste Firmenbefragung des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Fast zwei Drittel der Betriebe waren durch den Preisauftrieb demnach sogar schwer beziehungsweise sehr schwer betroffen.
Historischer Umbruch steht bevor
Jedes dritte Unternehmen bei Chemie und Pharma will im Jahr 2022 mehr investieren. Doch fast einem Viertel der Betriebe fehlt derzeit der finanzielle Atem dafür. Das ist ein kritischer Befund, denn: Selbst wenn Corona und Lieferengpässe eines Tages Vergangenheit sind, bleiben Mega-Herausforderungen wie Klimaneutralität, Digitalisierung und demografischer Wandel. Fest steht: Unser Industriezweig steht vor einem historischen Umbruch. Um die Zukunft zu sichern, sind Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe nötig. Für die Tarifpolitik bedeutet das: Statt Zugewinne zu verteilen, geht es darum, die Lasten des Umbruchs gemeinsam zu schultern.