Psychische Erkrankungen sind häufig – mit steigender Tendenz
Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens mindestens einmal psychisch zu erkranken, liegt in Europa bei über 50 Prozent. Dies berichtet Wirtschaftspsychologin Patrizia Thamm, die bei der Pronova BKK für die Umsetzung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements bei den Firmenkunden zuständig ist.
Die Zahlen bedeuten: Auch wenn man nicht selbst betroffen ist, so dürften doch sehr viele Menschen Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen in ihrem Umfeld haben, zum Beispiel am Arbeitsplatz. Dies sind die Facts:
- Viele Fehltage: Psychische Erkrankungen rangieren nach den Erkrankungen der Atemwege und des Bewegungsapparats auf Platz 3 der Erkrankungsgruppen, die die meisten Ausfalltage bei der Arbeit verursachen. Allein im Jahr 2023 stieg die Zahl der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) um 21 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
- Anstieg bei Jüngeren: Zwar gilt die steigende Tendenz für alle Altersgruppen. Doch besonders auffällig ist sie bei 20- bis 29-Jährigen. Hier nahmen zwischen 2022 und 2023 die AU-Fälle für psychische Erkrankungen um mehr als 30 Prozent zu.
- Große Unterschiede zwischen den Berufsgruppen: Die meisten Fehltage wegen psychischen Erkrankungen entstehen im Gesundheitswesen, die wenigsten im Baugewerbe. Die Chemische Industrie liegt mit 282 Fehltagen je 100 Beschäftigten unter dem Durchschnitt von 323.
„Berufe mit hoher emotionaler Belastung und Branchen, die von Fachkräftemangel und Überlastung geprägt sind, bergen eine höhere Gefahr, psychisch zu erkranken.“
Patrizia Thamm, Wirtschaftspsychologin und Resilienztrainerin, Pronova BKK
Auch bei psychischen Erkrankungen gilt: Frühes Handeln verhindert schwere Verläufe
Psychische Erkrankungen manifestieren sich häufig in den ersten vier Lebensjahrzehnten, berichtet Patrizia Thamm. Aus diesem Grund sei es wichtig, auf Früherkennung und Prävention zu setzen. Chronische und komplizierte Verläufe könnten sich dann im günstigen Fall abwenden lassen. Die Expertin sieht Arbeitgeber, Krankenkassen, Betroffene und das soziale Umfeld in der Verantwortung, Risikofaktoren zu erkennen und ihnen zu begegnen.
Dabei sind die Möglichkeiten, etwas für psychische Gesundheit zu tun, je nach Wirkungsbereich unterschiedlich.
Arbeitgeber und Führungskräfte können für einen gesunden Arbeitsplatz sorgen
Eine sinnvolle Arbeitsorganisation und psychologische Sicherheit tragen viel dazu bei, dass der Job nicht Teil des Problems, sondern der Lösung ist. Dies bedeutet:
- Skills und Arbeitsaufgaben sollten zueinander passen. Auf diese Weise lassen sich Versagensängste, extreme Überforderung (Burnout) oder starke Unterforderung (Bore-out) vorbeugen.
- Konflikte sind zum Lösen da. Mobbing, unverarbeitete kulturelle oder generationenbedingte Differenzen oder eine schlechte Fehlerkultur vergiften das Klima. Hier sind transparente Kommunikation und Lösungskompetenzen gefragt.
- Psychologische Sicherheit macht stark. Ein Team, das einen positiven Umgang pflegt, fängt viele Stressoren ab.
- Gefährdungsbeurteilungen schaffen Klarheit. Alle zwei Jahre lohnt sich der systematische Check – inklusive Wirkungskontrolle der Verbesserungsmaßnahmen.
- Resilienzprogramme stärken die Einzelnen und das Miteinander: Das betriebliche Gesundheitsmanagement kann durch Trainings die Team- und individuellen Kompetenzen im Umgang mit Stress aufbauen.
- Drogen sind ein No-Go: Alkohol und anderen Drogen versperren den Weg zu psychischer Gesundheit. Führungskräfte müssen auf entsprechende Auffälligkeiten reagieren und sollten über Hilfsangebote informiert sein.
Das Team kann Kraft geben
Ob Teammitglied oder Führungskraft: Wer bei seinem Gegenüber Wesensveränderungen, Reizbarkeit oder zu lange Trauerphasen bemerkt, sollte nicht wegschauen, rät Patrizia Thamm. „Ein empathisches Gespräch ist zunächst ein positives Signal. Für die Heilung sind Führungskräfte und Kolleginnen nicht zuständig. Aber sie können Verständnis und Akzeptanz zeigen, zuhören und auf Beratungs- und Hilfsangebote verweisen.“
Dos & Don´ts beim Umgang mit psychisch Erkrankten
Do | Don´t |
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Aufmerksam sein. | Bei Wesensveränderungen und Auffälligkeiten wegschauen. |
Ein empathisches Gespräch beginnen. | Dem Betroffenen das Problem absprechen oder uninformierte Ratschläge erteilen. |
Zuhören. | Verurteilen. |
Offen Hilfe anbieten oder auf Beratungsangebote hinweisen. | Das Problem auf die eigenen Schultern laden. |
Psychischen Erkrankungen vorbeugen: Was man selbst tun kann
Steht eine persönliche oder globale Krise ins Haus, können einige Individuen ihre Kraftreserven besser mobilisieren als andere. „Menschen, die sich auf ihre Stärken und Erfolgserlebnisse konzentrieren und so einen optimistischen Blick behalten und auf ein gutes soziales Unterstützungsnetz haben, zeigen sich resilienter im Umgang mit psychischen Belastungen“, erklärt Patrizia Thamm.
Um gerade die junge Generation bei den neuen beruflichen Herausforderungen zu unterstützen, bietet die Pronova BKK beispielsweise Resilienztrainings für Azubis an. Grundsätzlich, betont Patrizia Thamm, gibt es diese Workshops und Trainings aber für jedes Alter, nicht nur für die Risikogruppe junger Erwachsene.
Von ihren folgenden Tipps können alle Beschäftigen profitieren:
Psychisch gesund bleiben: Was hilft und was schadet
Das macht stark | Das zieht runter |
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Ein Frühwarnsystem für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen entwickeln. | Die eigenen Kräfte plündern und Stressoren verkennen. |
Auf die Lösbarkeit von Problemen vertrauen und achtsam darauf hinarbeiten. | In negative Denkspiralen verfallen. |
Sich mit anderen Austauschen, neue Perspektiven einholen. | Sich zurückziehen. |
Körperlich aktiv sein. | Abschlaffen. |
Auf genug erholsamen Schlaf achten. | Den Nachtschlaf sabotieren. |
Rausgehen, Tageslicht aufnehmen, auch im Winter. | Dem Risikofaktor Dunkelheit und Winterdepression erliegen. |
Depressionen und Ängsten zügiger begegnen
Dass Menschen mit einer Diagnose so lange auf einen Therapieplatz warten müssen, sieht Patrizia Thamm als erschwerend auf dem Weg zur einer schnellen Genesung. Darum übernimmt die Pronova BKK die Kosten für das Überbrückungsprogramm Novego, wenn ein ärztliches Rezept vorliegt. Man kann es von zu Hause aus nutzen. Es gibt Programmvarianten für
- Depressionen,
- Burnout,
- Ängste,
- Stressprävention und
- besseren Schlaf.
Sie kosten zwischen 249 und 119 Euro.
Drei Fragen an Resilienztrainerin
Patrizia Thamm
Warum sind Jüngere besonders gefährdet, was psychische Erkrankungen betrifft?
Die junge Generation wächst im Dauerkrisenmodus auf. Unsichere Zeiten, ausgelöst zum Beispiel durch die Klimakatastrophe und die Pandemie, bedingen starke Zukunftsängste, die auch die mentale Balance negativ beeinflussen. Unter den Lockdowns haben Heranwachsende besonders stark gelitten. Eine der häufigsten psychischen Erkrankung bei der jungen Generation sind Depressionen. Hier ist Handeln erforderlich, damit diese Erkrankung die Menschen nicht ein Leben lang begleitet und damit psychisch stark belastete Menschen vor einer Erkrankung präventiv geschützt werden.
Was ist zu tun?
Die gute Nachricht ist, dass die junge Generation achtsamer und reflektierter auf Bedingungen reagiert, die ihrer Gesundheitserhaltung schaden. Das ist wertvoll, um die Gefahr für psychische Probleme zu mindern. Diese stark gelebte Selbstfürsorge kollidiert allerdings mit der Mentalität älterer Generationen. Hier sollten Führungskräfte Brücken schlagen. Ältere können als Mentoren die Jüngeren unterstützen, Jüngere können Ältere mit neuen Perspektiven inspirieren. Zudem sollten Unternehmen im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagement den Schwerpunkt mentale Gesundheit mit einem facettenreichen Angebot noch stärker in den Fokus rücken. Davon profitieren alle Generationen.
Welche Maßnahmen zur Prävention psychischer Erkrankungen empfehlen Sie?
Im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung sind Stressprävention und Ressourcenstärkung wichtige Schwerpunkte. Dazu zählen zum Beispiel Workshops, Seminare und Impulse: Sie fördern die Resilienz, bauen die Skills im Umgang mit psychischen Belastungen aus und sensibilisieren für Erholungspausen sowie Achtsamkeits- und Entspannungsmethoden. Auch Programme und Tools für eine gesunde Führungskultur sollten Einsatz finden. So kann eine gesunde und sichere Arbeitsatmosphäre geschaffen werden. Das zahlt sich positiv auf die psychische Gesundheit der Beschäftigten aus. Geeignete Angebote für die Zielgruppe Männer zu schaffen, ist ein wichtiger Ansatz. Denn noch sind sie für Angebote des Betrieblichen Gesundheitsmanagements weniger empfänglich. Dabei ist diese Unterstützung für alle Beschäftigten wertvoll.