Arbeiten in der Chemie

Schichtarbeit als Chemikant: Die Vorteile der Nachtschicht

· Lesezeit 4 Minuten.
©Sandro

Tina Sauer hat zwölf Bildschirme im Blick. An ihrem Arbeitsplatz in der Messwarte von Ineos Paraform in Mainz laufen die Daten von zwei Produktionsanlagen für Formaldehyd und einer für Dimethoxymethan zusammen. „Wir sind zu dritt hier. Mein Kollege und ich wechseln uns ab. Wenn wir beide im Gelände sind, guckt der Schichtführer drüber“, erklärt die 39-Jährige im Blaumann. Die Chemikantin überwacht Temperaturen, Füllstände und Durchflüsse der hochautomatisierten Produktion. Ab und zu meldet sich eine Stimme aus dem Off: Dann setzt Sauer Helm und Schutzbrille auf und macht einen Kontrollgang.


Draußen wird es langsam dunkel, viele Kollegen haben schon Feierabend. Tina Sauer wird noch drei Stunden in der Messwarte bleiben. Seit vielen Jahren arbeitet sie im Schichtmodell: zwei Tage Früh-, zwei Tage Spät- und dann drei Tage Nachtschicht. Als sie nach ihrer Ausbildung im Jahr 2002 zu Ineos kam, war sie eine der ersten Frauen in der Branche, die nachts arbeiteten. Der Gesetzgeber hat das erst Anfang des neuen Jahrtausends erlaubt. Im Mainzer Unternehmen mit 135 Mitarbeitern sind derzeit zwei Frauen im Schichtdienst.

„Psst, leise, Papa schläft!“

„Ich komme bestens damit zurecht, sonst würde ich es nicht machen“, sagt Sauer. Schon ihr Vater war Schichtmeister in einem Chemiewerk. Kam er frühmorgens von der Arbeit und legte sich ins Bett, hieß es: „Psst, leise, Papa schläft!“ Der Vater war es auch, der ihr zu einem Praktikum in der Chemie geraten und somit ihre Berufswahl beeinflusst hat. Ursprünglich wollte Sauer Rechtsanwaltsgehilfin werden, aber nach dem Praktikum wusste sie sofort: Das ist es.


Ein Bürojob wäre nichts für sie. Und auch eine ganz normale Arbeitszeit kann sie sich nicht vorstellen: „Den ganzen Tag auf Arbeit und dann abends im Dunkeln nach Hause – nein, danke.“ Nachteile? „Ich sehe keine“, sagt sie nach einigem Nachdenken. „Ich gerate nicht in den Feierabendverkehr, ich kann mittags einkaufen gehen, wenn wenig los ist. Ich habe Zeit für Arztbesuche und Behördengänge und in der Woche drei bis vier Tage frei. Ich bin überzeugte Schichtarbeiterin, und es fällt mir immer noch so leicht wie früher.“ Schlafen könne sie jederzeit und nach der Spätschicht auch richtig lange.


Eine Schattenseite aber gibt es: „Nur wenige Freunde kommen damit klar, dass ich manchmal am Wochenende und sogar an Feiertagen arbeiten muss. Wenn man ein paarmal abgesagt hat, fragen sie einen nicht mehr.“ Eine Freundin jedoch sei Krankenschwester, die kenne das. Sauers Lebensgefährte arbeitet auch bei Ineos: Als Kesselwärter versorgt er die Produktion mit Energie. Das heißt jedoch nicht, dass sie sich im Werk oft begegnen, die beiden arbeiten zeitversetzt. „Wenn er schläft, bin ich auf der Arbeit und umgekehrt.“ Früher lagen ihre Schichten ungünstig, da haben sie sich kaum gesehen. Doch bei der letzten Änderung der Arbeitszeiten konnten sie ihre Wünsche äußern.


Kinder hat das Paar nicht: „Das hätte nicht unbedingt in mein Schichtmodell gepasst.“ Jede freie Minute verbringt die junge Frau aber bei ihrem Pferd – und das verträgt sich bestens mit der Schichtarbeit. Mehrmals die Woche ist sie um die Mittagszeit im Stall, bei schönem Wetter reitet sie aus. „Ist es dunkel, habe ich keinen Spaß daran.“ Ihr Ding ist das Westernreiten nach Art der Cowboys. Es geht um Freizeitspaß, nicht um Leistungssport: „Für Turniere ist mein Pferd schon zu alt.“

Die Nachtschicht ist die Lieblingsschicht

Rund 135 000 Tonnen Methanolderivate verlassen jährlich das Mainzer Werk, um zu Melaminharzen, Reifen, Schleifpapier, Pflanzenschutz oder Medikamenten verarbeitet zu werden. Für diese Anwendungen ist Ineos Paraform der zweitgrößte Produzent in Europa. „In den letzten 15 Jahren ist die Arbeit mehr geworden“, sagt die Chemikantin. Die Produktion von Dimethoxymethan ist dazugekommen, auch die Mengen sind gewachsen. In ihrer nächtlichen Lieblingsschicht überwacht Sauer die Anlagen, reichert das Formaldehyd mit Methanol und Stabilisatoren nach Rezeptur an, zieht Proben, verlädt Tankzüge. „Wir haben unsere Aufgaben fest auf dem Zettel und machen sie nacheinander. Tagsüber kommt immer jemand rein und ruft: Kannst du mal noch schnell dies und jenes machen? Nachts ist zwar auch viel zu tun, aber es ist ruhiger und übersichtlicher.“ Sagt Sauer und setzt ihren Helm auf, um draußen den Tankwagen an den Füllarm anzuschließen.

Mehr Fakten zu Männern und Frauen am rheinland-pfälzischen Arbeitsmarkt und im Bildungssystem. Den Alltag in der Chemikanten-Ausbildung schildern wir in diesem Porträt.

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