Industriebeschäftigte nehmen in Deutschland ein hohes Maß an Unkenntnis, Desinteresse und mangelnder Wertschätzung für ihre Arbeit wahr. Ihre Belange und Sichtweisen würden in gesellschaftlichen Diskussionen, in der politischen Debatte und von den Massenmedien nicht ausreichend berücksichtigt, kritisiert eine Mehrheit der Teilnehmenden einer aktuellen Umfrage der IGBCE.
An der Erhebung haben sich mehr als 4.200 Mitglieder aus allen Branchen im Organisationsbereich der zweitgrößten deutschen Industriegewerkschaft beteiligt. Die Ergebnisse sind damit aussagekräftig für Beschäftigte in der Industrie insgesamt.
Nach dem Eindruck der Befragten hat Industriearbeit in Deutschland stark an Renommee eingebüßt. Gut zwei Drittel (67 Prozent) geben an, die Wertschätzung dafür falle in der Gesellschaft heute „eher“ oder „sehr“ gering aus. 69 Prozent sehen ihre Belange und Sichtweisen als Industriebeschäftigte in gesellschaftlichen Diskussionen eher oder gar nicht ausreichend berücksichtigt.
Kritik an medialer Darstellung
Dies liegt nach ihrer Wahrnehmung auch an den Massenmedien: 80 Prozent kritisieren, über die Themen von Industriebeschäftigten werde nicht ausreichend berichtet. 70 Prozent beklagen zudem eine „eher“ oder „sehr“ verzerrte Berichterstattung. Noch fataler fällt das Urteil über die Politik aus: Deren Verständnis für die Themen von Industriebeschäftigten sei „eher“ oder „sehr“ gering, sagen zusammen 84 Prozent der Befragten.
Auffallend ist, dass die Ergebnisse unter den in der Produktion Beschäftigten besonders negativ ausfallen. In dieser Gruppe kritisieren beispielsweise 42 Prozent ein „sehr geringes“ Verständnis“ in der Politik für ihre Belange, weitere 46 Prozent ein „eher geringes“. Über alle anderen Beschäftigtengruppen liegen diese Werte im Schnitt bei 29 beziehungsweise 52 Prozent. Zudem blicken Beschäftigte in der zweiten Hälfte ihres Arbeitslebens tendenziell kritischer auf die öffentliche Wahrnehmung als ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Und Männer sind tendenziell skeptischer als Frauen.
„Die Gesellschaft in Deutschland als Industrienation und Exportchampion ist dem eigenen Wohlstandsgaranten in Teilen offensichtlich weit entrückt. Das erklärt so manche ideologische Kampagne und realitätsferne politische Debatte der Vergangenheit, rechtfertigt sie aber nicht“, sagt der Vorsitzende der IGBCE, Michael Vassiliadis.
„Ausgerechnet diejenigen, die die klimagerechte Transformation unseres Industriestandorts in der Praxis vorantreiben sollen, finden nicht ausreichend Gehör und fühlen sich übergangen. Das ist eine fatale Fehlentwicklung, die wir dringend umkehren müssen“, fordert der IGBCE-Vorsitzende. „Den Wandel in der Industrie werden wir nur dann erfolgreich gestalten, wenn wir ihn nicht über die Köpfe der Profis hinweg verordnen.“
Die Ergebnisse müssten auch die Industrie selbst aufhorchen lassen, so Vassiliadis. „Die Unternehmen müssen mehr tun für die Sichtbarkeit und Attraktivität ihrer Branchen als Arbeitgeber und sich stärker öffnen für industrieferne Schichten in der Bevölkerung. Andernfalls werden sie im Zuge eines sich verschärfenden Fachkräftemangels den Anschluss verlieren.“
Hohe Verbundenheit mit Arbeit und Branche
Die Verbundenheit zur eigenen Arbeit ist bei den Industriebeschäftigten in den Branchen der IGBCE mehrheitlich hoch. Die Befragten konnten hier in mehreren Bereichen jeweils von 1 (keine Identifikation) bis 10 (100 Prozent Identifikation) Punkte vergeben. Bei der Verbundenheit zur eigenen Branche vergaben zwei Drittel der Befragten eine 8, 9 oder 10. Der Durchschnittswert lag bei 7,72. Besonders hoch ist die Identifikation bei Beschäftigten des Bergbaus, der Energiewirtschaft und der Pharmaindustrie, besonders niedrig bei Kautschuk-, Papier- und Kunststoffbranche.
Am höchsten ist die Identifikation mit dem eigenen Beruf (im Durchschnitt: 8,15), am niedrigsten mit dem eigenen Arbeitgeber (6,34). Mit ihrer IGBCE als Gewerkschaft fühlen sich die Mitglieder deutlich stärker verbunden: Hier liegt der Durchschnittswert bei 7,4.